1. Das Rad dreht und dreht sich
Wenn das SEM mit einer Zunahme von Asylgesuchen aus bestimmten Regionen konfrontiert ist, mischt sich regelmässig die Politik ein und setzt das Asylsystem zusätzlich unter Druck. Dann wird in der asylrechtlichen Schatzkiste gesucht und es kommen immer wieder die gleichen Rezepte auf den Tisch: noch kürzere Verfahren, Einschränken der Rechte gewisser Gruppen von Asylsuchenden, mit dem Ziel, sie davon abzuschrecken in die Schweiz zu kommen. Einmal mehr steht nicht der Schutzgedanke, sondern der Abwehrgedanke im Vordergrund, dies auf Kosten der Menschenrechte der von diesen Massnahmen betroffenen Asylsuchenden.
Bereits im August 2012 wurde ein Schnellverfahren eingeführt, damals ein 48-Stunden-Verfahren. Davon betroffen waren Personen aus visumsbefreiten europäischen Staaten. In der Tat betraf dieses Verfahren jedoch vornehmlich Roma aus Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Serbien, die damals in zunehmender Zahl in die Schweiz einreisten und ein Asylgesuch einreichten. Im März 2013 wurde dieses Verfahren auch noch auf Asylsuchende aus Georgien und dem Kosovo ausgeweitet.
Die Gesuche von Staatsangehörigen dieser Länder haben zwar drastisch abgenommen, doch ist unbekannt, wie viele Personen infolge dieser Praxis untergetaucht oder in andere europäische Länder weitergereist sind. Dazu kam, dass das Asylsystem durch diese parallelen Verfahren stark herausgefordert war und diese schliesslich nicht immer so kurz waren, wie das damalige Bundesamt wahrhaben wollte. Zahlreiche Verfahren haben schliesslich monatelang gedauert. Gerade in Zeiten verstärkter Belastung der Verfahrensstrukturen funktionieren solche Kurzverfahren in der Regel nur noch beschränkt, wobei die Rechte der betroffenen Personen zum Teil drastisch eingeschränkt werden.
2. Kurzverfahren für Asylsuchende gewisser Herkunftsländer – eine Diskriminierung
Damals wie heute wird die Einführung der Kurzverfahrens mit der starken Auslastung der Unterbringungsstrukturen für Asylsuchende einerseits und dem deliktischen Handeln bzw. dem schwierigen Verhalten einer kleinen Gruppe von Asylsuchenden aus diesen Ländern begründet.
Gekoppelt mit dem damaligen 48-Stunden-Verfahren war der Entscheid, Romas im Gegensatz zu anderen Asylsuchenden kein Taschengeld auszubezahlen. Dies führte dazu, dass ganze Roma Familien in abgelegenen Militärunterkünften untergebracht wurden, keinerlei Taschengeld erhielten und ihren Kindern nicht einmal eine Flasche Wasser kaufen konnten, wenn sie das Zentrum einmal für ein paar Stunden verliessen. Somit wurden Roma bei uns genauso diskriminiert wie in ihren Herkunftsstaaten.
Im heutigen 24-Stunden-Verfahren treten Maghrebiner an die Stelle der Roma. Betroffen von diesem Verfahren sind Asylsuchende aus Marokko, Tunesien, Algerien und Libyen. Es kann zwar nicht in Abrede gestellt werden, dass eine kleine Gruppe von Maghrebinern strafrechtliche Mehrfachtäter sind oder Unruhe in die Unterbringungsstrukturen bringen. Die Neuenburger Polizei hat klar kommuniziert, dass es sich um eine kleine Minderheit handle und sich ein überwiegender Grossteil der Maghrebiner bei uns völlig korrekt verhielten.
Es widerspricht dem Nichtdiskriminierungsgebot, Asylsuchende allein aufgrund ihrer Herkunft aus bestimmten Ländern und dem negativen Verhalten einiger ihrer Landsleute im Asylverfahren anders zu behandeln als die übrigen Asylsuchenden.
Nicht zu unterschätzen ist auch die psychologische Wirkung der staatlichen Stigmatisierung der maghrebinischen Asylsuchenden auf die Schweizer Bevölkerung einerseits und die entscheidenden Instanzen beziehungsweise die Rechtsvertreter*innen andererseits.
3. Menschenrechtssituation in den erwähnten Ländern
Die Tatsache, dass nur eine Minderheit der Asylsuchenden aus Marokko, Tunesien, Algerien und Libyen als Flüchtlinge anerkannt werden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in all diesen Ländern schwere Menschenrechtsverletzungen gibt und es sehr wohl möglich ist, dass sich verfolgte und besonders verletzliche Personen unter den Asylsuchenden aus diesen vier Ländern befinden. Das vom SEM ausgesendete Signal lässt jedoch breite Bevölkerungsschichten glauben, dass es in diesen Ländern keine Menschenrechtsverletzungen gibt.
Demzutrotz werden in Marokko, Tunesien, Algerien Journalist*innen, Blogger*innen, Regimekritiker*innen, Mitglieder von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Angehörige der LGBTIQ-Gemeinschaft, Angehörige von Minderheiten (saharauische Bevölkerung in Marokko) nicht selten elektronisch überwacht. Jegliche Kritik am Handeln staatlicher Institutionen oder Berichte über Protestaktionen können zu einem Strafverfahren und zu mehrjährigen Haftstrafen führen. In und ausserhalb der Gefängnisse kommt es regelmässig zu Misshandlungen, Folter und schweren sexuellen Übergriffen durch die Sicherheitskräfte, die von Vorgesetzten toleriert werden und weitgehend straflos bleiben.
In Tunesien wurden die Errungenschaften des arabischen Frühlings massiv eingeschränkt und das Regime ging sogar gegen Parlamentarier der Opposition vor, die sich gegen den neuen Präsidenten aufgelehnt hatten. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist nicht mehr gewährleistet und zahlreiche Richter wurden ihres Amtes enthoben. Auch Anwälte sind zunehmend Willkür ausgesetzt. Wie in Marokko werden die gleichen Personengruppen Opfer von staatlicher Willkür. Übergriffe von Sicherheitskräften bleiben auch in Tunesien weitgehend straflos.
Auch in Algerien wird mit staatlicher Willkür gestützt auf die Anti-Terrorgesetzgebung gegen dieselben Personengruppen vorgegangen. Die Glaubensfreiheit ist nicht garantiert. Zahlreiche Kirchen wurden geschlossen. Muslimische Minderheiten sowie Rechtsanwälte sind ebenfalls im Visier der Behörden und werden zu Opfern staatlicher Willkür. Personen mit Nähe zu kabylischen Organisationen riskieren ebenfalls Strafverfahren. Folter und Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte bleiben weitgehend unbestraft.
In Libyen gehen die verschiedenen Milizen mit totaler Willkür und Grausamkeit bei totaler Straflosigkeit gegen Opponenten vor. Die Haftbedingungen sind grausam und es kommt auch regelmässig zum Verschwindenlassen von unliebsamen Personen. Die politische Zukunft von Libyen ist völlig offen und das Land befindet sich in einer politischen Sackgasse.
4. Risiko von Fehlentscheiden wird erhöht
Das 2019 eingeführte getaktete Kurzverfahren hat bereits zu Genüge aufgezeigt, dass vor allem traumatisierte Personen Schwierigkeiten haben, mit den kurzen Fristen dieses Verfahrens zurechtzukommen und auch aufgrund des schwierigen Zugangs zu Spezialärzt*innen oft nicht in der Lage sind, ihre besondere Verletzlichkeit zu belegen. Sie werden dann durch das Asylverfahren geschleust, ohne wirklich die Möglichkeit zu haben, ihre Fluchtgründe vollumfänglich darzulegen, was zu Fehlentscheiden führen kann. Selbst wenn die vom SEM getroffenen Massnahmen zu gewissen Verbesserungen geführt haben, ist das Risiko gross, dass solche Situationen im Stress des 24-Stunden-Verfahrens untergehen.
Im Gegensatz zu 2012/13, wo die Asylsuchenden mehrheitlich sich selbst überlassen waren, haben sie heute wenigstens eine Rechtsvertretung. Diese hat in diesem Kontext eine äusserst wichtige Aufgabe. Doch leider musste die unabhängige Koalition von Rechtsvertretern und Rechtsvertreterinnen die Feststellung machen, dass diese Aufgabe nicht von allen Rechtsvertretungen mit der gleichen Berufsethik und Beharrlichkeit wahrgenommen wird und die Gründlichkeit des Verfahrens schliesslich auch davon abhängt, welchem Verfahrenszentrum Asylsuchende zugeteilt werden. Dies sollte in einem rechtstaatlichen Verfahren nicht vorkommen.
5. Welche Lösungsansätze gibt es im Falle von starker Auslastung der Unterbringungsstrukturen und strafrechtlichem bzw. problematischem Verhalten gewisser Asylsuchender?
Seit Inkrafttreten des Asylgesetzes wurde bei zunehmender Belastung des Asylsystems immer wieder am Asylverfahren gehebelt. Der Zugang zum Verfahren wurde zunehmend erschwert. Die Rechte von Asylsuchenden aber auch von anerkannten Flüchtlingen wurden im Laufe der Jahre eingeschränkt, doch Zusatzkredite für zusätzliches Personal wurden vom Parlament bereits in den achtziger Jahren abgelehnt.
Es gibt keine Wunder. Asylverfahren sind keine einfachen Verwaltungsprozesse, die Handgelenk mal Pi durchgepeitscht werden können. Fehlentscheide können schwere Konsequenzen haben und das körperliche und seelische Gleichgewicht eines Menschen oder einer ganzen Familie zerstören. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele.
Das heute geltende Asylverfahren ist bereits ein Kurzverfahren, das an seine Grenzen kommt. Auch die Mitarbeitenden des SEM kommen an ihre Grenzen. Dieses Verfahren noch mehr zu beschleunigen, ist keine Lösung. Wenn sich die Anzahl der Asylsuchenden verdoppelt, muss auch die Anzahl der Mitarbeitenden im SEM entsprechend angepasst werden. Sonst sind die zuständigen Behörden mit einer hohen Rotationsrate konfrontiert, wodurch wichtiges Knowhow und viel Zeit für die Ausbildung neuer Mitarbeitenden verloren geht und der Output vermindert wird.
Ob das Dublin-Verfahren (57% aller Verfahren von Maghrebinern) 24 Stunden oder einige Tage dauert, hat keinerlei Einfluss auf die Länge dieses Verfahrens, denn die Antwort des zuständigen Drittstaates muss so oder so abgewartet werden. Wenn ein straffälliger oder verhaltensauffälliger Asylsuchender ins nationale Verfahren kommt, kann sein Verfahren gezielt vorgezogen werden, ohne all seine Landsleute zu stigmatisieren, die sich korrekt verhalten. Beispiele aus der Vergangenheit (Tessin) zeigen zudem auf, dass die Einführung umfassender gemeinnütziger Beschäftigungsprogramme zu einer starken Befriedung der Situation in und um das Bundeszentrum Chiasso geführt haben. Der dafür eingesetzte Kredit von 70’000 Franken hat Wunder bewirkt. Die Integration von Asylsuchenden in unsere Gesellschaft hat wesentlich mehr bewirkt als der Ausschluss durch die Abschottung der Asylsuchenden in den Bundeszentren.
Die Förderung des Kontakts zwischen Asylsuchenden und der Zivilgesellschaft sind ein ebenso wichtiger Lösungsansatz wie die Verstärkung der Betreuungsstrukturen. Leider scheitern jedoch zivilgesellschaftliche Projekte immer wieder an den hohen administrativen Hürden, die das SEM solchen Projekten auferlegt. Auch für die Verstärkung der Betreuungsstrukturen liegen die Handlungsmöglichkeiten beim SEM, das den Betreuungsschlüssel zu Lasten des Sicherheitsschlüssels erhöhen könnte. Mit der Begründung, dass der entsprechende Kredit nicht gesprochen wurden, wird jedoch ein entsprechendes Pilotprojekt aufs Eis gelegt.