Im Frühjahr 2021 beauftragte das Staatssekretariat für Migration SEM Expert*innen von Unisanté und des Waadtländer Unispitals mit der Erarbeitung eines Berichts zur Suizidprävention in den Bundesasylzentren der Region Westschweiz (Boudry, Vallorbe und Giffers). Die Expert*innengruppe befragte das Personal, führte Besuche vor Ort durch und nahm die zahlreichen Verordnungen und Konzepte der Verwaltung genau unter die Lupe.
Der fertige Bericht lag im Dezember 2021 vor, wurde vom SEM aber erst im Mai 2022 diskret online aufgeschaltet. Der Westschweizer Radiosender RTS hat das Thema aufgegriffen. Ausserhalb von Aktivist*innenkreisen wurde dem Bericht (FR) in der Deutschschweiz bisher so gut wie keine Beachtung geschenkt.
Das SEM fasst auf seiner Website zusammen: «Die Expertinnen und Experten beurteilen die Situation insgesamt als gut. Sie zeigen aber auch Wege zur Optimierung der Betreuung und zu einem einheitlicheren Konzept auf.» Für die ZiAB ist dies eine befremdliche Schlussfolgerung für einen Bericht, der auf gravierende Mängel hinweist und rund zwanzig Empfehlungen ausspricht.
Selbstverletzende Handlungen und Suizidversuche betreffen zusätzlich zu den Asylsuchenden immer auch die Mitarbeitenden vor Ort – die Zahlen sprechen Bände. 87% der rund 500 Befragten aus unterschiedlichen Berufsgruppen (Betreuung, Rechtsschutz, Sicherheit, SEM, Lehrpersonen, Seelsorgende) gaben an, im Rahmen ihrer Arbeit bereits direkt oder indirekt mit der Äusserung von Suizidgedanken konfrontiert gewesen zu sein. 79% haben selbstverletzende Handlungen von Asylsuchenden direkt beobachtet. 56% des Personals waren einem Suizidversuch und 43% einem Tod durch Suizid ausgesetzt. Die Mehrheit der Mitarbeitenden haben die Unterstützung bei solchen Vorfällen als ungenügend eingestuft. Der Bericht konstatiert daher – wenig überraschend – ein hohes Risiko und teilweise bereits klare Anzeichen für Mitgefühlsmüdigkeit und Burnout (ähnlich dem Evaluations-Bericht zum Bundesasylzentrum Zürich). Der Bericht empfiehlt in diesem Zusammenhang regelmässige Supervision, spezifische Schulungen rund um das Thema Suizid und eine personelle Aufstockung des Gesundheitsteams.
Zudem empfohlen werden u.a. wöchentliche psychiatrische Konsultationen für die Asylsuchenden vor Ort, ein verbessertes Screening bei der Ankunft von Asylsuchenden und eine intensivierte Zusammenarbeit mit Suchtberatungsstellen. Der Bericht hält fest, dass suchtkranke Asylsuchende Suizidgedanken teilweise als Druckmittel äussern, um Medikamente zu erhalten. Dies könne beim Personal zu einer ‘Gegenhaltung’/’Abstumpfung’ führen, welche es zusätzlich erschwere, suizidale Absichten zu erkennen und ernst zu nehmen. Auf den Seiten 50-52 des Berichtes finden Sie alle Empfehlungen kompakt aufgelistet.
Im Mai hielt das SEM gegenüber RTS fest, dass die Empfehlungen aus dem Bericht derzeit ausgewertet würden, die Ukraine-Krise aber alle Dossiers verlangsame.
Die ZiAB begrüsst ausdrücklich, dass das SEM eine Evaluation zum Thema Suizidprävention in Bundesasylzentren bei einer externen Stelle in Auftrag gab. Die Befürchtung steht jedoch im Raum, dass einmal mehr ein Bericht mit vielen wertvollen Hinweisen auf (un)bekannte Missstände zu einem ‘Papiertiger’ verkommt, ohne den Alltag der Bewohner*innen von Bundesasylzentren zu verbessern. Die ZiAB wird sich in ihrem bilateralen Austausch mit dem SEM dafür einsetzen, dass dies nicht geschieht.